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Dankbarkeit fürs Da sein

Ein Text von Redaktion

10. Juni 2023

Wie kommt man dazu, den Job als Lehrerin für zwei Wochen gegen die Koordinierung eines medizinischen Einsatzteams austzutauschen? Nora ist nach den schweren Erdbeben in der Türkei im Februar mit einem Team dorthin gereist und hat uns im Interview einige Fragen beantwortet, wie es dazu kam und was sie besonders bewegt hat.

Wie ist es dazu gekommen, dass du im Februar zwei Wochen anstatt im Klassenraum als Lehrerin in einer Zeltstadt in der Türkei gearbeitet hast? 

Im Februar gab es in der Türkei ein katastrophales Erdbeben mit über 50.000 Toten und mehr als 100.000 Verletzten. Bereits am Tag des Erdbebens alarmierte die Hilfsorganisation Humedica seine ehrenamtlichen Mitarbeiter. Vor 8 Jahren hatte ich mich bei Humedica als Koordinatorin für medizinische Teams in Not- und Katastrophengebieten ausbilden lassen. Ich fühlte mich jedoch erst mal nicht angesprochen, da ich ja in der Schule arbeiten musste. Aber nach 5 Tagen kam eine Nachalarmierung. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich muss da jetzt hin. Gerade letzten Herbst habe ich an einer Katastrophen-Großübung teilgenommen, und zwar ausgerechnet in einem fiktiven Erdbebenszenario. Ich sprach also mit meiner Vorgesetzten und bat um zwei Wochen Sonderurlaub. Der wurde auch genehmigt.

Wie sah ein Arbeitstag für euer Team aus?

Bis in der Türkei dann so etwas wie ein Arbeitsalltag beginnen konnte, gab es viel zu regeln: Anreise des Teams, das medizinische Material zur Behandlung von 3000 Menschen (Medikit) durch den Zoll bekommen, lokale Mitarbeiter*innen finden, sich mit Verantwortlichen vor Ort absprechen. Dann die Frage: Zelten wir trotz Minusgraden, oder gibt es noch Gebäude, die sicher genug sind? … Schließlich fanden wir ein Hotel außerhalb des Epizentrums, das im Notbetrieb lief. Von dort brachen wir nach dem Frühstück täglich um 7:30 Uhr auf. Bis zu der Zeltstadt, in der wir arbeiteten, mussten wir eine Stunde fahren. Auf dem Weg holten wir Dolmetscher:innen ab, es musste organisiert werden, wo das Notfallgepäck ist und welches Equipment wir für den Tag brauchen. Wir mussten immer evakuierungsbereit sein und für den Notfall alles dabeihaben: In unseren Einsatzwesten am Körper unsere Ausweisdokumente, Trillerpfeife und Rettungsdecken, Sicherheitsschuhe und Helm. Im Rucksack mindestens 1 Liter Wasser, eine Notfallration essen, warme Kleidung. Außerdem einen Rucksack mit medizinischem Notfallequipment fürs ganze Team. 

Gegen neun Uhr fingen wir an im Camp zu arbeiten: Das medizinische Team begann Patienten zu registrieren und eine medizinische Basisversorgung für die Menschen im Camp anzubieten, zusammen mit unseren lokalen Helfern. Die Situation in einem Erdbebengebiet und in so einer Notlage ist sehr dynamisch, es passieren laufend unvorhergesehene Dinge. Wir erlebten weitere Beben, die zur Folge hatten, dass noch mehr Menschen die Region verließen. So an einem Tag auch eine unserer Übersetzerinnen, da ihr Haus schließlich nicht mehr bewohnbar war. So musste ich im Kopf immer viele Möglichkeiten durchspielen und oft sehr schnell Entscheidungen treffen.

Wie hast du dich innerlich auf den Einsatz vorbereitet, auf die Not und das Leid, das euch begegnen würde?

Durch die Ausbildung als Koordinatorin und durch unterschiedliche Einsätze war ich ja schon erfahren. Die Katastrophe in der Türkei war bereits aus den Nachrichten bekannt. Natürlich ist es etwas Anderes, in eine solche Situation auch wirklich hineinzugehen. Das war schon erschütternd. Ich war aber auch sehr dankbar, dass ich direkt für Menschen in ihrer Not und ihrem Leid da sein konnte.

Was war eine besonders herausfordernde Situation für dich oder für euch als Team?

An einem Abend saßen wir nach einem langen Arbeitstag in einem Restaurant. Plötzlich wackelte alles. Es war vollkommen surreal. Einer sagte: Die Erde wackelt. Im nächsten Moment war uns klar: Ein weiteres Erdbeben. Sofort zogen wir unsere Helme auf, schnappten uns die Notfallrücksäcke und rannten aus dem Gebäude. – Es ist wichtig die Sicherheit des Teams ständig im Blick zu haben, alles, was möglicherweise passieren könnte, zu durchdenken und jederzeit evakuierungsbereit zu sein. Auch zivile Unruhen können gefährlich werden, und es ist wichtig da möglichst präventiv zu handeln. Z. B. Indem man sich eng mit lokalem Personal abspricht, Menschenmassen meidet und auf ein sehr transparentes und klares Handeln achtet. So hatten alle registrierten Patienten bei uns einen Nummer nach der sie dran genommen wurden. Ich musste auch den Überblick behalten, wie und mit wem koordiniert werden muss, damit Hilfen zielgerichtet ankommen. Wichtige Akteure für uns im Feld waren beispielsweise der medizinische Campleiter, des Governeur der für das Camp zuständig war, Vertreter:innen des Gesundheitsministeriums und die Mitarbeiter:innen des EMT-CC (Emergency Medical Team Coordination Cell), der Schnittstelle der WHO, die überhaupt die Arbeitserlaubnisse für internationale medizinische Teams erteilen. Eine gut koordinierte Hilfe ist wirklich das A und O in einer so vulnerablen Situation. Die sprachliche Herausforderung kam hinzu: Oft wurde sehr schnell auf Türkisch gesprochen. Personen, die für mich übersetzt haben, kamen bei den z. T. hitzigen Gesprächen mit lokalen Verantwortlichen oft schwer hinterher. Zudem waren viele lokale Mitarbeiter extrem erschöpft, weil sie seit dem Erdbeben nonstop arbeiteten und auch persönlich betroffen waren.

Wie ist es dir gelungen, deinen Glauben mit der Arbeit vor Ort zu verbinden? Gibt es Aspekte über Gott, die du neu entdeckt hast?

Die Ausmaße dieser Katastrophe sind wirklich furchtbar. Mich tröstet, dass es Vollkommenheit und Gerechtigkeit nur bei Gott allein gibt, dass er Menschen in Not besonders nah ist und mitleidet. Für mich war es sehr berührend, wenn Patienten zu uns kamen und gesagt haben, dass sie für uns beten. Sie waren oft unfassbar dankbar einfach dafür, dass wir da waren. Dabei hatte ich das Gefühl, wir können nur so einen ganz winzigen Teil beitragen ihr Leid zu lindern. Viele haben erzählt, dass sie alle Angehörigen verloren haben, ihr Haus, ihre Existenz. Ein Junge berichtete, wie er stundenlang neben seinem toten Bruder gelegen habe. Ein Mann erzählte, dass seine Familie zwar überlebt habe, aber sein Haus und seine Autowerkstatt würden komplett in Trümmern liegen. Alles, was er sich ein Leben lang erarbeitet hatte. Seine Familie hat er zu Freunden nach Istanbul in Sicherheit gebracht. Er selbst lebt nun in einem Wohnwagen. Oft fühlte ich mich dann ohnmächtig. Ich konnte einfach nur da sein und zuhören.

Was nimmst du mit in den normalen Arbeitsalltag?

Ich nehme Not in der Welt bewusster und sensibler wahr. Und bin gleichzeitig total dankbar für das, was wir haben. Mein Gottvertrauen wurde gestärkt. Denn gerade wenn man direkt mitbekommt, wie die die Erde bebt, zeigt mir das, wie klein wir auf der Welt sind und dass wir letztlich alles nur in Gottes Hand legen können.

Fotos: privat

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