Wertschätzung

Wut oder Sanftmut

Ein Text von Redaktion

7. Oktober 2019

Ich springe schnell noch in den Schreibwarenladen an der Straße rein, einer dieser seltenen „Krämerläden“, in denen man immer irgendwelche schönen Sachen findet. Ich liebe diese kleinen süßen Läden, die sich in Zeiten von Online-Handel und Kaufhausketten behaupten. Ich suche zwei Pappkisten, in die wir eine größere Menge Karten hineinpacken wollen, um sie zu verschenken. Eine Riesenauswahl, alle möglichen Größen, Farben, Muster.

Ich schaue, wühle, probiere, halte gegeneinander, habe einige Kisten vor mir stehen. Die ältere Dame, die das Geschäft führt, fragt, ob sie helfen kann. Ich bin noch unentschlossen. Nach längerem Probieren merke ich, dass keine der Kisten schon so richtig mein Herz erfreut und ich heute irgendwie noch nicht so weit bin, eine Entscheidung für die zwei Pappkisten zu treffen. Ich sage das der Dame, während ich zur Kasse gehe, um eine Postkarte zu bezahlen. Da bricht es aus ihr heraus: Ob ich jetzt allen Ernstes keine Kiste kaufen wolle, nachdem ich eine Viertelstunde lang sämtliche Kisten aus dem Regal genommen habe?! Sie lässt mich stehen, läuft wütend zu den Kisten, räumt sie verärgert wieder ein. Brummt, wenn sie den ganzen Tag solche Kunden hätte. Ich bin offen gestanden etwas perplex. So geht man wirklich nicht mit Kunden um! Eigentlich ist mein reflexartiger Impuls in solchen Momenten, beleidigt zurückzuschießen oder wutentbrannt den Laden zu verlassen und nie wieder zu betreten.

Ich bin aber sehr dankbar, dass es heute anders ist. Irgendwie gelingt es mir, ruhig zu sein, stehen zu bleiben, die Frau in ihrer Situation wahrzunehmen. Ich sage, dass es mir leid tut, ich einfach noch nicht entschieden bin. Sage ihr – ja, auch etwas in Verteidigungshaltung –, dass ich doch regelmäßig bei ihr einkaufen komme und es auch weiter vorhabe. Ich frage, was ich anders hätte machen können. Halte inne. Sie grummelt weiter, wenn sie den ganzen Tag solche Kunden hätte. Ich schnappe ein bisschen nach Luft. Überlege kurz, ob ich einfach ihr zuliebe irgendwelche Kisten kaufe, finde das aber auch nicht ehrlich. Ich entschuldige mich nochmal, wünsche ihr einen guten Tag und sage: „Bis zum nächsten Mal“. Hm. Sieht nicht so aus, als ob sie mich gern wiedersehen will.

Anderen Wertschätzung am Arbeitsplatz entgegenzubringen, wenn man offensichtlich nicht gut behandelt wird, ist schwer. Ich bin wahrlich kein Experte darin. Ich erlebe an diesem Tag ein bisschen davon, wie es ist, einen anderen Menschen in seiner Situation und seiner Sicht auf die Welt wahrzunehmen und nicht bei mir selbst und meinem Recht hängen zu bleiben. Die Frau tut mir wirklich leid, vermutlich hat sie wirklich oft Kunden, die nichts kaufen. Vielleicht hat sie einen blöden Tag, einen schlechten Umsatz-Monat oder andere Sorgen. Ich werde bestimmt wieder hingehen und bei ihr einkaufen. Vielleicht kann ich ihr dann noch einmal Entschuldigung sagen. Oder ihr anderweitig etwas Gutes tun. Aber die Pappkisten kaufe ich vielleicht doch woanders und mit etwas mehr Ruhe und Entscheidungsfreude.

(Foto: Skitterphoto_Pexels)

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